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AutorenbildKaja

TikTok: Der Ruin der Konzertkultur

Seit die Konzerthallen nach der Pandemie wieder geöffnet sind, stürmt meine Generation die Festivals und Konzerte. Dadurch hat sich vieles verändert. Man merkt, wir haben alle zu viel Zeit auf TikTok verbracht und den Bezug zur Realität verloren. Aber vielleicht gibt es auch gute Seiten. Ein Kommentar.


Taylor Swift, The 1975, Harry Styles, TikTok, Konzert
Fotos: DUKAS, Samuel Bradley, @omillershots

Wir befinden uns im März 2020: Es wird still in der Welt der Live-Musik. Abgesagte Tourneen, leere Bühnen und geschlossene Veranstaltungshallen. Einer kompletten Generation, der ihre ersten Konzerterfahrungen bevorstehen, werden die Türen zur Live-Musik vor der Nase zugeschlagen. Es beginnt eine Zeit voller Zoom-Meetings, schwindelerregender Corona-Zahlen - und ohne Konzerte.


Während wir schließlich alle isoliert und gelangweilt in unseren Kinderzimmern sitzen, erlebt TikTok einen explosionsartigen Aufstieg. Die Plattform markiert den Beginn einer neuen Ära der Popkultur. Egal ob Musik, Mode oder Unterhaltung - TikTok verändert alles.


Der große Vorteil der App: Sie demokratisiert das Internet. Jede*r hat auf TikTok die Möglichkeit, mit seinen Inhalten viral zu gehen, unabhängig von Follower-Zahl und Prominenz. So wird die Plattform auch schnell von verschiedensten Fandoms vereinnahmt, die zumindest meine For-You-Page von Anfang an dominieren. Viele der Nutzer*innen teilen ihre Erfahrungen, Tipps und Vlogs von Konzerten und beeinflussen damit die Verhaltensweisen aller Zuschauenden. 


Diese wurden nun nach dem Lockdown in die Konzertwelt entlassen. Ohne langsam in die ungeschriebenen Regeln der Live-Musik hinein zu wachsen, ahmen sie jetzt das Verhalten der Fans auf TikTok nach. 


In keinem anderen Lebensbereich spürt man die Auswirkungen von TikTok so sehr wie auf Live-Shows. Und das nicht immer im Positiven.


Disclaimer: Ich beschreibe hier meine persönlichen Gedanken und Gefühle zur gegenwärtigen Situation. Dieser Artikel soll kein Angriff auf die genannten Personengruppen sein, ich kann sie selbst in allen Punkten nachvollziehen. Es ist lediglich ein Aufruf, dass wir unser Verhalten ab und zu einmal selbst reflektieren. 


Der Wettbewerb durch TikTok


Das beste Video


Was mich auf Konzerten von Taylor Swift, Harry Styles und The 1975 erwartet? Das kann ich aus dem Stegreif erzählen, ohne zuvor bei einer Show gewesen zu sein. Meine For-You-Page wird regelmäßig überflutet von Videoausschnitten, die man zu einer kompletten Dokumentation der Shows zusammensetzen könnte. 


Konzerte sind kein Ereignis mehr, dass nur zwischen Künstler*in und Publikum stattfindet. Sie werden quasi live auf TikTok mit der Welt geteilt. Auch wenn man nicht vor Ort ist, kann man die komplette Tour mitverfolgen und weiß über alle Inside-Jokes und Fanchants Bescheid. 


So schön es einerseits ist, dass man auch von Zuhause aus nichts verpasst, bedeutet das vor allem eins: Viele Handys. Dass das kein neues Problem ist, ist mir durchaus bewusst. Auch davor hat das Publikum Konzertvideos für die Instagram-Story oder einfach für sich persönlich aufgenommen. Die Motivation auf TikTok ist nun aber eine ganz andere. 


Hier haben die Videos das Potenzial, millionenfach aufgerufen zu werden. Alle wittern ihre Chance, den spannendsten Moment des Konzerts einzufangen und damit viral zu gehen. Um diesen viralen Moment bloß nicht zu verpassen, filmen sie einfach das komplette Konzert und posten die TikToks noch während der Show. 


"When I’m on stage and look to you but you are gazing into a screen, it makes me feel as though those of us on stage are being taken from and consumed as content, instead of getting to share a moment with you."

- Mitski auf Twitter 


Hinzu kommen hier noch Personen, die sich während des Konzerts selbst aufnehmen. Später schneiden sie sich dann in kleine Mini-Vlogs, um zu zeigen, was für eine tolle Zeit sie während der Show hatten. Welche Band da vor ihnen stand? Eigentlich egal, Hauptsache die Zuschauenden denken, sie hätten etwas Großartiges verpasst. Die Fans opfern ihr persönliches Erlebnis und spielen stattdessen die Kamera für das TikTok-Publikum.


Die beste Interaktion


Wichtig für die Videos ist vor allem das, was zwischen den Songs passiert. Die zuvor erwähnten Inside-Jokes entstehen häufig durch unerwartete Momente, wenn die Musiker*innen mit dem Publikum interagieren. Plakate, geworfene Gegenstände oder Reinrufe sind wichtige Instrumente, um die Aufmerksamkeit der Künstler*innen zu bekommen. Hier kommt das Bedürfnis der Fans zum Vorschein, die parasoziale Beziehung in eine echte soziale Interaktion zu übertragen.


Es gibt zahlreiche Beispiele, wo nicht nur die Fans durch Views davon profitieren, sondern auch die Musiker*innen. Matty Healy hat mit seinen Autotune-Kommentaren und Fan-Küssen Anfang des Jahres einen spürbaren Hype um The 1975 kreiert; Harry Styles hat einen Teil seiner Show extra dafür reserviert, um auf die Plakate seiner Fans zu reagieren. Seitdem wurden Gender-Reveals, Coming-Outs und Beziehungstipps in seinem Set quasi vorausgesetzt.


Im Gegenteil dazu haben sich einige Künstler*innen auch schon gegen diesen Wettbewerb um ihre Aufmerksamkeit ausgesprochen. Steve Lacy hat die Kamera eines Fans auf dem Boden zerschmettert, nachdem er darum gebeten hatte, dass das Publikum keine Gegenstände auf ihn werfen soll. Denn nicht jede*r hat ein Talent im Zielen: Bebe Rexha musste nach einer Show genäht werden, weil ein Fan ihr ein Handy ins Gesicht geworfen hat.


Ich freue mich prinzipiell auch über Interaktionen mit den Musiker*innen, weil sie die Konzerte einzigartig und persönlich machen - vor allem, wenn man den sonstigen Ablauf der Shows schon durch TikTok kennt. Aber sind diese Momente wirklich noch besonders, wenn sie vom Publikum als festes Element erwartet werden? Willst du dafür wirklich allen mit deinem Plakat durchgängig die Sicht versperren? Und ist es das Risiko wert, dass die Artists dabei potenziell verletzt werden? Ich bin mir da nicht so sicher.


Das beste Outfit


Ebenfalls ausgelöst durch die Love On Tour, hat sich inzwischen bei vielen Künstler*innen ein bestimmter Dresscode herauskristallisiert. Bei Florence + The Machine sammeln sich magische Feen im Publikum, Beyonce wünscht sich silberne Zuschauende und The Last Dinner Party gibt ein Kleidungs-Motto für jeden Tourstopp vor. Viele Fans überlegen sich Wochen vorher, was sie tragen wollen, verzieren ihr Outfit oder kaufen es passend zum Stil der Band. Und sie basteln Freundschaftsarmbänder, die sie beim Konzert mit anderen Fans austauschen können. 


Hinter den Outfits steht eigentlich eine schöne Idee, weil sie die Gemeinschaft und den besonderen Tag zelebrieren sollen. Während viele diesen Prozess genießen, um dem Konzert entgegenzufiebern, empfinde ich ihn häufig als Druck, um in das Publikum hineinzupassen. Der Gedanke der Zugehörigkeit durch denselben Dresscode kann hier schnell exkludierend werden. Denn er bedeutet noch mehr Stress, Zeit und Geld, das man sowieso schon in Ticket, Anfahrt und Unterkunft investiert hat. 


Der beste Platz


Apropos Stress, Zeit und Geld: Zu guter Letzt ist der Wettbewerb um die erste Reihe wohl die schlimmste Entwicklung durch die Plattform. Camping ist kein neues Phänomen und bildet schon immer einen wichtigen Teil der Fankultur. Doch seit TikTok hat das ganz andere Dimensionen angenommen. Die App normalisiert und glorifiziert das ewige Anstehen als essentiellen Bestandteil einer "richtigen" Konzerterfahrung.


Alle wollen möglichst weit vorne stehen, um dem*r Künstler*in möglichst nahe zu sein und möglichst gute Videos aufzunehmen. Man weiß schon von TikTok, wann die anderen Fans vor der Venue sitzen werden. Die logische Konsequenz: Man muss selbst noch früher dort sein. So schaukelt sich die Wartezeit in immer höhere Sphären. Bei kleinen Konzerten stellen sich die Ersten morgens an, bei größeren sogar mehrere Tage zuvor.


Das kann und will sich allerdings nicht jeder leisten. Konzerte sind seit der Pandemie ohnehin um einiges teurer geworden und Plattformen wie Ticketmaster kurbeln das durch Dynamic Pricing weiter in die Höhe. Sich dann auch noch einen oder mehrere Tage frei zu nehmen, um auf der Straße vor der Venue zu sitzen, ist nicht selbstverständlich - und meistens auch nicht sinnvoll.


Außerdem ist das lange Anstehen nicht ungefährlich. Wenn das Konzert dann tatsächlich losgeht, befinden sich viele schon im Kampf gegen den Kreislaufkollaps. Komisch, dass mehrere Stunden in der prallen Hitze oder Nächte im kalten Zelt nicht spurlos an einem vorbeigehen. Einige erleben das Konzert, auf das sie so lange gewartet haben, nur noch im Sanitätszelt. 


Der fehlende Maßstab


Mein größter Kritikpunkt ist, dass bei all den genannten Punkten kein Unterschied nach Bekanntheit der Artists gemacht wird. Klar, vielleicht verdient ein kleiner Künstler das gleiche Maß an Aufregung um ihre Anwesenheit wie eine Beyoncé. Für weniger bekannte Artists ist die Reichweite über TikTok auch nochmal wichtiger. Aber trotzdem ist es nie angemessen, Musiker*innen anzubrüllen, sie zu bewerfen und konstant die Kamera auf sie zu halten. Vor allem, wenn du die Band nach dem Konzert entspannt am Merchstand treffen kannst.


Allgemein habe ich das Gefühl, dass die Glorifizierung von Artists durch TikTok immer extremer wird, die respektvolle Distanz zu ihnen aber immer kleiner. Dadurch, dass sie auf ein Podest des TikTok-Hypes gehoben werden, werden sie vom Publikum wie ein Produkt behandelt. Egal ob Jeremias, Cro oder Harry Styles.


Durch TikTok ist die Entspanntheit nun selbst bei kleinen Indie-Shows verloren gegangen. Wenn Fans inzwischen bei Konzerten für 100 Personen ein Nummernsystem organisieren und ich mir dafür extra ein besonderes Outfit überlegen muss, ist mir das einfach zu viel.


Mir geht es darum, dass wir wieder die richtige Balance finden. Man kann sich diesem Wettbewerb auch entziehen. Wie wäre es, wenn wir uns einfach wieder später anstellen, Musiker*innen wie normale Menschen behandeln, in simplen Outfits zu Konzerten gehen und nur ein paar kurze Videos aufnehmen? Dann hätten wir alle wieder eine entspannte Zeit.

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