Der Release des Albums The Record von Boygenius liegt schon ein paar Monate zurück. Nun hat die Supergroup aus Phoebe Bridgers, Lucy Dacus und Julien Baker in Berlin ihr erstes Deutschland-Konzert gespielt. Wie das so war und warum man sich dort besonders wohlgefühlt hat, erfahrt ihr hier.
Mittags vor der Verti Music Hall: Doc Martens, schwarze Kleidung und Heavy Metal Designed Shirts so weit das Auge reicht. Fleißig werden Freundschaftsarmbänder getauscht, Nummern ver- und Wasser geteilt. Die Sonne knallt auf den Asphalt. Trotzdem bleibt die Stimmung bis kurz vor dem Einlass ausgelassen und die Aufregung der Schlange steigt. Als die Tore geöffnet werden, laufen einige los, andere gehen mit schnellen Schritten Richtung Halle.
Mehr als nur Support-Act
Die queere Indiepopband MUNA aus Kalifornien öffnet die Show und bildet das perfekte Gegenstück zu Boygenius. Selten wurde ein Support-Act so lieb begrüßt wie hier. Und auch textlich ist ein großer Teil des Publikums sicher. Fehlen darf natürlich nicht ihr poppiger Song "Silk Chiffon" mit Phoebe Bridgers, der die beiden Bands verbindet. Bei Phoebes Feature-Part kommt zuerst nur Lucy dazu, ein paar Sekunden später die komplette Band. Auf einmal springen und singen mit Boygenius und MUNA während eines einzigen Songs mehr FLINTA* auf der Bühne, als auf der Mehrheit der deutschen Festivals. Das bringt natürlich alle Fans zum Ausrasten.
Warum das ein wichtiger Moment ist? Nun ja, schaut man sich mal die Statistiken an oder spricht mit FLINTA* aus der Musikszene, sieht man das Ungleichgewicht der Geschlechter und die fehlende Repräsentation von marginalisierten Gruppen in der Musikindustrie. Ganz zu schweigen vom Gender-Pay Gap, Sexismus oder sexualisierter Gewalt in- und außerhalb der Branche.
The Boys Are Back In Town
Die Show eröffnen die selbsternannten Boys dann passend mit "The Boys Are Back In Town" von Thin Lizzy, woraufhin die Drei im Backstage gefilmt werden, wie sie A Capella das Intro "Without You Without Them" singen.
Die Setlist lässt nicht nur starke Songs vom Debütalbum wie "$20" oder "Emily I'm Sorry" folgen, sondern ist ein Auf und Ab durch die komplette Diskographie. So würdigen Boygenius auch ihre selbstbetitelte EP mit Tracks wie "Me & My Dog", welches von Phoebes verstorbenem Hund handelt.
Zwischendurch beweist Julien ihre sprachlichen Fähigkeiten auf deutsch, was das Publikum in lauten Applaus ausbrechen lässt. Generell interagieren die selbsternannten Boys viel mit dem Publikum. Als Phoebe vor dem Song "Boyfriends" darum bittet, die Hand zu heben "if you're gay", meldet sich fast die komplette Halle.
Denn Boygenius sind - wie der Name schon sagt - nicht nur musikalische Genies, sondern fast schon Botschafterinnen von Queerness, Witz und Traurigkeit. Sie besprechen Themen wie Selbstzweifel und -findung, toxische Beziehungen oder wie in "True Blue" ihre innige Freundschaft. Während letzterem hält das Publikum kleine blaue Zettelchen vor seine Handytaschenlampen, die zuvor von Fans verteilt wurden, was die Halle in blauen Lichtern erstrahlen lässt.
But it feels good to be known so well / I can't hide from you like I hide from myself / I remember who I am when I'm with you / Your love is tough, your love is tried and true-blue
boygenius in "True Blue"
Auch außerhalb ihrer Musik machen Boygenius ihre politischen Einstellungen auf den Konzerten deutlich. Bei einer Show in Tennesse traten sie kurzerhand als Dragqueens auf und protestierten so gegen die Anti-LGBTQ+ Gesetze dort, und alle - insbesondere Phoebe - sprechen sich häufig für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche aus.
Abgesehen davon, dass viele Leute durch die Hitze Kreislaufprobleme haben, fällt die unfassbar schöne Atmosphäre auf. Nicht nur bei den Fans, die sich durch die Musik verstanden fühlen, laufen die Tränen, sondern auch bei Julien, Lucy und Phoebe.
Heraus sticht außerdem, dass alle drei gleichwertig und für sich selbst in der Band stehen. Die liebevolle Freundschaft und der gegenseitige Respekt zwischen den Dreien ist förmlich spürbar. Während Julien, Lucy und Phoebe jeweils einen Solo-Song spielen, ziehen sich die anderen Parts währenddessen zurück und geben derjenigen immer Raum im Scheinwerferlicht. Auch die Fans bejubeln jedes Mitglied gleichwertig und singen lauthals mit.
Als hätte die Show nicht genug Höhepunkte, surft Phoebe gegen Ende sogar noch über die Crowd; beendet wird das Konzert mit noch größerem Knall, mit"Dumbest Girl Alive" von 100 Gecs.
Die Band und ihr Publikum haben einen Safe-Space für alle geschaffen, die sonst lange danach suchen müssen. In der ausverkauften Halle herrschte eine Stimmung, in der sich alle wohl und sicher gefühlt haben. Bewiesen haben sie mit ihrer Show aber vor allem eins: Boygenius heißt Empowerment.
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